Die Auster
Bericht an einen Freund in Jerusalem, 18. Dezember 2021



Auf dem vom Regen nassen Bürgersteig auf der anderen Straßenseite,
vor den Kulissen der fein ziselierten Hausfassaden,
sehe ich, wenn ich hier, von meinem Schreibtisch aus,
aus dem Fenster schaue, Menschen mit Taschen an den Händen,
Menschen, die von links nach rechts oder von rechts nach links gehen.
Es sind langsame Bewegungen. Eine Frau raucht,
ein Mann führt einen Hund an der Leine,
wieder einer vergräbt seine Hände tief in seinen Manteltaschen,
er geht ein wenig gebückt. Ein anderer fuchtelt mit den Armen,
als ob er marschieren würde. Torkelt er? — Eine Krähe schreit.
Es sind nie wiederkehrende Bilder.

Keiner trägt eine Kopfbedeckung; keiner einen Schirm.
Die nassen Pflastersteine haben eine schöne Farbe: einige sind grau
und einige braun, erdfarben, an Lehm erinnernd.

Ab und zu fährt ein Auto vorbei, eher langsam;
ein nasses Zischen ertönt dann vom Asphalt herauf, metallisch, silbern.
In dieses Geräusch mischt sich plötzlich der Klang von harten High-Heel-Schritten:
unter meinem Fenster klacktackert eine Frau einen sorgenfreien Text ohne Worte

in den Morgen, jenseits eines Verstehens;
ein schöner Rhythmus, der wieder verschwindet, leiser wird ... leiser ...  —

In der Nähe wird der Motor eines Autos angelassen ... wohl wegen
der Temperaturen draußen muss der Fahrer es öfter versuchen ...
wahrscheinlich flucht er vor sich hin in seinem Panzer,
in seinem Gehäuse aus Blech und Plastik und Missmut ...

Hinter einem Fenster im Haus gegenüber steht eine Frau, etwas
verdeckt durch einen hellen, fast weißen Vorhang; sie schaut geradeaus … —
sie schaut vor sich hin…  oder nach draußen, man erkennt das nicht;
was sie wohl denken mag ... vielleicht schmiedet sie Pläne ... erinnert sich

an etwas Schönes ... sinniert bloß … was sie heute kochen soll ... ob sie
in die feuchte Kälte hinausgehen soll … Allein, sie steht reglos dort.

Über all diesem Geschehen liegt eine große Stille. Es ist Samstagvormittag, in
meiner Straße herrscht eine Art Vakuum, eine eigenartige Leere, ein Gemisch aus
Nichts und Stille und aus Warten und Nichtstun, angefüllt nur mit diesem
blassen sonnenlosen Tageslicht und durchsichtiger kalter und etwas feuchter Luft ... —

Einfach dasitzen und diese Stille spüren ... aus dem Fenster schauen …
schweigen ... mit den Augen den wenigen Bewegungen folgen,
die ihren kurzen Auftritt in der Geschichte der Welt haben ... unwiederbringlich ...

vorbei ...

Nun sind weitere zehn Minuten in meinem Leben vergangen ... ja, vorbei … verbracht
mit dem Schreiben einiger Sätze, die sich aus diesen Beobachtungen ergaben,
als ich, an meinem Schreibtisch sitzend, aus dem Fenster schaute …
als gäbe es dort etwas, das diesen Tag von den anderen Tagen unterscheidet ... —



So zieht sich die Schlinge Zeit immer enger zu, Minute um Minute schließt
sich der Spalt, durch den jenes Licht strömt, das für uns die Dinge
aus dem dunklen Raum freigibt … wie wenn man langsam eine Auster öffnet
und den salzigen und betörenden Duft in der Nase wahrnimmt  … —

 

… nur werden wir nie erfahren,
was die Auster in dem Moment denkt, wenn sie ins Licht geführt wird
um sodann endgültig in der Dunkelheit unserer Mundhöhle zu verschwinden ...

 


18.12. 2021